Gor? Was ist das denn?

Immer mal wieder liest man im Second-Life-, aber auch im OpenSim-Umfeld von Gor. OpenSimWorld listet etliche Sims mit Gor-Thema. Vielleicht ist man neugierig und geht einfach mal hin, um sich das anzugucken – egal, ob da gerade Avatare sind. Vielleicht ignoriert man dabei sogar das Adult-Rating, das alle Gor-Sims haben. Man war ja schon oft auf Adult-Sims, oder man hat noch nie auf Ratings geachtet, oder man weiß womöglich gar nicht, was diese Ratings bedeuten.

Und dann landet man auf einer altertümlich oder mittelalterlich anmutenden Sim. Wenn Avatare anwesend sind, sind vor allem weibliche höchstwahrscheinlich entweder sehr leicht und freizügig bekleidet oder gleich ganz nackt. Womöglich sieht man sogar einen altertümlich bzw. mittelalterlich gekleideten – oder wiederum nackten – männlichen Avatar, der gerade einen weiblichen Avatar erniedrigt oder gar vergewaltigt.

Bevor man auch nur auf die Idee kommt, das zu melden, kann es passieren, daß man sogar von der Sim geworfen wird. Sofern man eine Begründung dafür bekommt, wird die sein, daß man selbst sich nicht an die Regeln gehalten hat.

Ja wie, Regeln? Und wieso man selbst? Man hat nur dagestanden in seinen Alltagsklamotten und hat genau gar nichts gemacht, aber da war dieser Typ, der diese Frau in aller Öffentlichkeit vergewaltigt hat? Wer hat denn hier jetzt gegen irgendwelche Regeln verstoßen?!

Doch, das war man tatsächlich selbst. Doch, es gibt Regeln. Und nach diesen Regeln war die Vergewaltigung übrigens legal.

Was zum Teufel …?

Literarische Vorlage

Dafür sollte ich Gor zunächst einmal erklären.

Gor stammt aus der Literatur. Genauer gesagt kommt es aus einer Romanreihe, die der Autor John Norman seit 1966 schreibt. Der erste Band, Tarnsman of Gor, erschien in Deutschland 1973 unter dem Titel Gor – Die Gegenerde und wurde 2007 unter dem Titel Der Krieger neu veröffentlicht.

Gor selbst ist ein Planet in unserem Sonnensystem, eine sogenannte Gegenerde. Er befindet sich also auf derselben Umlaufbahn um die Sonne wie die Erde selbst, aber am genau gegenüberliegenden Punkt. Gor kann also von der Erde aus nicht gesehen werden, weil die Sonne im Weg ist. Umgekehrt weiß man auf Gor sehr wohl, daß die Erde existiert, denn die Priesterkönige, die höchsten Herrscher, die auf Gor selbst eigentlich Aliens sind, verfügen über Raumschiffe.

In mancherlei Hinsicht ähnelt Gor der Erde. So haben einige irdische Kulturen Pendants auf Gor. Allerdings wird Gor von den Priesterkönigen künstlich auf einem Stand gehalten, der jeweils einer z. B. altertümlichen oder mittelalterlichen Kultur der Erde entspricht. Das liegt auch daran, daß Gor ursprünglich gar nicht bewohnt war und alle Einwohner Gors entweder von der Erde entführt wurden oder Nachfahren von Entführungsopfern sind. Die Priesterkönige haben z. B. Wikinger entführt oder Leute aus dem alten Rom oder aus anderen mediterranen Hochkulturen, aber auch aus Japan, dem Orient oder dem Venedig des Barock. Und die haben sich seitdem nicht weiterentwickeln dürfen. Das heißt, manchmal entführen die Priesterkönige immer noch Menschen von der Erde.

Das erklärt aber immer noch nicht die Phänomene, die ich oben beschrieben habe. Die rühren daher, daß ein wichtiger Bestandteil der Kultur(en) von Gor Sklaverei ist. Weit überwiegend werden Frauen versklavt. Und dieses Sklaventum ist sehr wohl auch sexueller Natur.

Um es kurz zu machen: Im Grunde lebt Norman mit diesen Büchern nur seine eigene Affinität zu männlicher Dominanz, weiblicher Erniedrigung (Maledom/Femsub) und BDSM aus. Und tatsächlich sind die Gor-Bücher in der BDSM-Szene populär, wenngleich auch nicht unumstritten, denn was da passiert, ist kein klassisches BDSM. Nicht nur reduziert es sich im Grunde auf Dom/Sub, also Dominance/Submission, sondern es wird häufig sogar auf ein Safeword verzichtet. Das wird dadurch gerechtfertigt, daß zum einen – meistens – die Frau eine Sklavin ist, die eh nichts zu sagen hat, und zum anderen keine gefährlichen Sadomaso-Praktiken zum Einsatz kommen. Wie gesagt, es ist ja „nur“ Dom/Sub.

Virtuelles Gor: Lifestylers vs. By-the-book

Auch in virtuellen Welten – will sagen, speziell Second Life und OpenSim – gibt es BDSM. Das mag jetzt einige schockieren, das ist aber so. Gerade bei Amerikanern hat man manchmal den Eindruck, daß es nichts gibt zwischen einerseits totaler Prüderie und Verklemmtheit und andererseits BDSM mit allen Schikanen. Im Grunde ging es los, als es durch neue Mittel der Animationssteuerung technisch möglich wurde.

Ein wichtiger Bestandteil war hier die Einführung des Restrained Love Viewer (RLV), einer Erweiterung in Viewern, die es Avataren ermöglicht, andere Avatare zu steuern. In OpenSim wird einem das gern als Mehrzweck-Fernsteuerung für NPCs verkauft, und natürlich kann man es dafür nehmen. Aber RLV wurde für Second Life entwickelt, und in Second Life gibt’s keine NPCs. Da kann man damit nur die Kontrolle über Avatare übernehmen. Hauptsächlich wird es also für Dom/Sub-Spielchen eingesetzt. Dabei muß der zu steuernde Avatar einen entsprechenden Empfänger tragen, was meistens ein Halsband ist.

Wie dem auch sei, bald wurde man wohl der üblichen BDSM-Spiele mit Lack und Leder und Andreaskreuz und Käfig und so weiter überdrüssig und kam auf die Idee, Sims mit Gor-Thema zu bauen. Natürlich war das überwiegend nur ein Feigenblatt für Dom/Sub ohne Safeword und für sexuelle Handlungen in aller Öffentlichkeit.

Das war vor allem dann offensichtlich, wenn die Sims mit Gor herzlich wenig zu tun hatten, weil die Simbetreiber Gor allenfalls vom Hörensagen aus der BDSM-Szene kannten. Ich habe mal von einer Sim gelesen, in der es wohl darum ging, daß irgendwo lauter freie nackte Frauen herumlaufen, die von Männern einfach versklavt werden können. Wohlgemerkt, ohne NPCs. Solchen und ähnlichen Unfug fand man da dann vor.

Irgendwann breiteten sich aber tatsächliche Fans der Gor-Reihe in Second Life und OpenSim aus. Die fanden es doof, daß Gor als Name herhalten mußte für „Maledom/Femsub und Rumgeficke in aller Öffentlichkeit, aber der Mann ist ein antiker Krieger/Geldsack“.

Um das allgemeine Wissen über und die Reputation von Gor zurechtzurücken, führten sie Sims nach einem neuen Prinzip ein: „by the book“, also streng nach literarischer Vorlage. By-the-book-Sims sind also keine reinen BDSM-Sexsims, sondern darauf ausgelegt, alle Aspekte von Gor im Rollenspiel nachstellen zu können. Für diejenigen, die Gor nur als stilistische Vorlage für Maledom/Femsub nutzten, fanden die Gor-Fans den Begriff „Lifestylers“.

Warum Gor-Sims längst nichts für jedermann sind

Wichtig auf Gor-Sims ist auch die Immersion. Der oben geschilderte Rauswurf ist genau darin begründet: Auf den meisten Gor-Sims wird erwartet, daß man sich in diese Welt integriert, daß man sich entsprechend verhält – und daß man sich entsprechend kleidet. Wenn man auf einer Gor-Sim erwischt wird in schwarzer Lederjacke, T-Shirt, Jeans und Turnschuhen, fliegt man achtkantig raus. Solche Klamotten gibt es auf Gor nicht.

„Ich wollte nur mal gucken“ geht als Ausrede ebensowenig durch wie „ich hab’ keinen Bock, diesen Blödsinn mitzumachen“. Out-of-character (kurz OOC) ist gerade auf By-the-book-Gor-Sims im allgemeinen nicht erlaubt. Wer dagegen verstößt, fliegt raus. Da können die Gor-Leute rigoros sein.

Als Frau oder mit einem weiblichen Avatar hat man sowieso keine Rechte. In Gor gibt es grundsätzlich schon auch reiche, mächtige Frauen. Aber nicht jeder in der OpenSim-Gor-Community will das anerkennen. Für viele sind Frauen bzw. weibliche Avatare automatisch immer Sklavinnen. Einige haben schon ein Problem damit, daß das Gor Grid – eins von mehreren Grids, die sich auf Gor spezialisiert haben – von einer Frau administriert wird, also die mächtigste Person im Grid eigentlich eine rechtlose Sklavin sein müßte. OOC aus Ahnungslosigkeit heraus schützt einen übrigens auch da nicht.

Es gibt nur sehr wenige Gor-Sims, auf denen – und sei es nur auf Teilen der Sim – Neulinge, die sich nicht gleich ins Gor-Thema stürzen wollen und können, sich so bewegen dürfen wie sonst auch. Da wird Gor vorgestellt, und da bekommt der angehende Goreaner, was er braucht, vor allem passende Kleidung – sofern es für den eigenen Body passende Gor-Kleidung gibt. Die gibt’s nämlich nur sehr selten auf Nicht-Gor-Sims, aber für Gor-Sims braucht man sie.

Wer von Gor keine Ahnung hat, sollte sich auf diese Sims beschränken. Und wenn es da spezielle Besucherbereiche gibt, sollte man sich auch nur in diesen Besucherbereichen aufhalten. Wenn man das nicht unterscheiden kann, sollte man von allem, wo Gor dran steht, generell die Finger lassen. Wenn man irgendwie prüde ist, mit Rollenspiel nichts am Hut hat oder gegen Sexismus und für Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Geschlechter, dann auch.

Ansonsten kann aus der eigenen unbändigen Neugierde schnell eine sehr unangenehme, ja, schmerzhafte Erfahrung werden.

#OpenSim #SecondLife #FürFortgeschrittene