Immersion: „Charakterzentrisch“ vs. „nutzerzentrisch“
Ein Aspekt der Immersion ist, wie man seinen eigenen Avatar und andere Avatare sieht.
Wenig bekannt ist und entsprechend wenig diskutiert wird, daß es da zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen gibt: als virtuelle fiktive Figur in einer virtuellen Welt oder als Abbild des Nutzers in einer glorifzierten Chat-Anwendung. Das wird auch deshalb nicht diskutiert, weil die Anhänger beider Seiten sich zunächst einmal überhaupt nicht bewußt sind, daß es die jeweils andere Seite überhaupt gibt.
Die Begriffe
Im Second-Life-Forum gibt es einen interessanten Thread, in dem einer der wenigen, die Second Life eher immersiv angehen, das Thema genauer beleuchtet und auch zwei Begriffe aufbringt: „charakterzentrisch“ und „spielerzentrisch“. Weil aber bei sowohl Second Life als auch OpenSim meist vehement abgelehnt wird, daß es Spiele sind, möchte ich „spielerzentrisch“ ersetzen durch „nutzerzentrisch“.
„Charakterzentrisch“: Eintauchen in die virtuelle Welt
„Charakterzentrisch“ ist immersiv. Man sieht die 3D-Welt in OpenSim als ebensolche mit Betonung auf „Welt“. Man sieht nicht „nur Pixel“, sondern das, was die Pixel darstellen.
Entsprechende Ansprüche hat man auch an den Realismus, denn Unrealistisches – vor allem unnötigermaßen Unrealistisches aus reiner Bequemlichkeit heraus – zerstört die Illusion einer echten virtuellen Welt und damit die Immersion.
Der Avatar ist ein Charakter, so etwas wie eine Spielfigur in einem Rollenspiel, nur eben nicht in einem Spiel. Der Avatar hat einen eigenen Charakter, auch wenn er nicht wie in klassischen Rollenspielen wie Dungeons & Dragons einen Character Sheet hat. Und der Nutzer kann diesen Charakter komplett selbst definieren. Selbst wenn der Charakter im wesentlichen dem Nutzer entspricht, ist der Avatar doch eine eigene, vom Nutzer gesondert zu betrachtende Entität und kein 3D-Bildchen, das einen realen Menschen symbolisieren soll.
OpenSim ist für den „charakterzentrischen“ Nutzer also weniger ein 3D-Chat als eine Art Impro-Theater oder ein Spiel mit virtuellen Barbie-Puppen, das über Anziehen, Umziehen und Stylen hinausgeht und gleichzeitig mehr Zubehör hat als ein paar Klamotten und ein Puppenhaus. „Hartes“ klassisches Rollenspiel mit Charakterklassen und Charakterbögen ist es nicht.
„Charakterzentrische“ Nutzer bauen folglich auch ihre eigenen Gebäude, Parzellen und Sims im Hinblick darauf, was für echte Menschen notwendig wäre, und darauf, unrealistische Verhaltensweisen eindämmen zu können. Wenn sie beispielsweise einen Club bauen, bauen sie all das ein, was ein realer Club bräuchte, und den Teleport-Landepunkt legen sie an einen Ort, der vom Club selbst aus nicht einsehbar ist. Wenn sie eine urbane Umgebung bauen, pflanzen sie auch nicht nur Freebie-Stores und Leerstände aneinander, sondern es gibt ein Rathaus, eine Polizeiwache (könnte ja mal jemand Krimi spielen wollen), eine Feuerwehrwache, einen Supermarkt, Gastronomie, Grünanlagen, Bushaltestellen usw.
Wenn sie sich selbst in einer entsprechend ausgestatteten Umgebung befinden, kommt es nicht selten vor, daß sie sie auch so nutzen, wie sie gedacht ist. So lassen sie ihren Avatar auch mal in einer Kneipe, einen Café oder einem Restaurant einkehren; manchmal verknüpfen sie so das virtuelle mit dem wahren Leben, indem ihr Avatar in ein Restaurant – oder zu Hause erst in die Küche und dann ins Eßzimmer – geht, wenn sie selbst etwas essen.
Bei Veranstaltungen teleportieren sie sich nicht direkt auf die Party, sondern, wenn es irgendwie geht, irgendwo in die Nähe. Zur Not legen sie sich vorher eine Landmark an mit einem Landepunkt, der außerhalb der Sichtweite der Partylocation ist. Oder sie teleportieren sich in eine Nachbarsim und gehen dann zu Fuß rüber, wenn das irgendwie geht.
Nach der Veranstaltung schließen sie nicht einfach den Viewer oder teleportieren sich raus, während sie noch tanzen. Statt dessen gehen sie zu Fuß von der Location weg, bis sie nicht mehr in Sichtweite sind, und verschwinden erst dann.
„Charakterzentrische“ Nutzer legen sich auch gern Alts mit neuen Identitäten an. Sie fassen sie dann auch als wiederum eigene Charaktere auf, manchmal gar mit eigenen Charakterzügen, eigenen Vorlieben, eigener Hintergrundstory gar.
Auch wenn sie bekanntgeben, daß das Alts sind, lassen sie nicht grundsätzlich durchblicken, wessen Alts das sind. Falls doch, kann es durchaus passieren, daß man den Hauptavatar eines „charakterzentrischen“ Nutzers zusammen mit einem seiner Alts sieht. Auch wenn dahinter ein und derselbe Nutzer steht, sind es für ihn immer noch zwei verschiedene, eigenständige Personen. Und er erwartet, daß das Umfeld der beiden Avatare da mitspielt, und zwar auch die Eingeweihten.
„Nutzerzentrisch“: „Sind doch nur Pixel!“
„Nutzerzentrisch“ ist, OpenSim als „WhatsApp oder Discord, aber am PC und mit 3D-Avatar“ zu nutzen, also eigentlich nur als 3D-Chat.
Der Avatar hat denselben Stellenwert wie das Profilbildchen in Foren oder klassischen Chats, nur daß das jetzt kein statisches Bildchen (oder maximal noch ein animiertes GIF) ist, sondern ein sich bewegendes 3D-Modell. Man agiert in-world im Prinzip als sein Real-Life-Ich und nicht als Charakter. Aber man interagiert auch bei anderen Avataren nicht mit den Avataren, sondern ausschließlich mit den Leuten dahinter. Zwischen in character und out of character wird keine Trennung gezogen. Es gibt ja kein in character, weil es keinen Charakter gibt.
Zu „nutzerzentrisch“ gehört in extremeren, aber nicht unbedingt seltenen Fällen auch, daß die Welt um den eigenen Avatar herum weitgehend bis komplett ignoriert wird inklusive allen anderen Avataren – aber natürlich nicht den Nutzern hinter den Avataren. Man achtet nicht auf die Szenerie an dem Ort, an dem man ist, man achtet nicht auf das Thema oder Motto einer Veranstaltung, und man achtet auch nicht darauf, wie die Avatare der eigenen Freunde aussehen, z. B. wie sie gekleidet sind. Wie gesagt, Avatare sind für sie keine Charaktere, sondern praktisch beliebige 3D-Bildchen. Deswegen stecken sie in ihre eigenen Avatare oft auch nur das Nötigste an Arbeit und auch das nur einmal, wenn und weil es gerade unbedingt nötig ist.
Es ist diese Fraktion, der alles, was es in-world gibt und was in-world passiert, egal ist. Eben: „Sind doch nur Pixel.“
„Nutzerzentrische“ Nutzer haben auch manchmal Alts. Das sind aber meistens keine Alts im klassischen Sinne, sondern zusätzliche Instanzen ihres Hauptavatars auf anderen Grids, die häufig nur durch Gridumzüge zustande gekommen sind. Völlig andere Alts haben sie höchstens zum Experimentieren. Die nutzen sie entsprechend selten und stören sich auch nicht dran, wenn man sogar noch einen andersgeschlechtlichen Alt in aller Öffentlichkeit mit dem Namen des Hauptavatars anredet.
Konfliktpotential
Problematisch wird das, wenn man als „nutzerzentrischer“ Nutzer blindlings davon ausgeht, daß alle so vorgehen wie man selbst, daß OpenSim für alle nur ein 3D-Chat ist. Dann interagiert man bei allen Leuten, auch in Gegenwart von Fremden, an deren Avataren vorbei mit den Leuten dahinter. Ob die das wollen oder nicht – man geht davon aus, daß das ja jeder will. Ob Zuschauer das stört oder nicht – man geht davon aus, daß die das ja auch alle so machen wie man selbst.
Das führt dann zu unschönen Situationen. Nicht unschön für einen selbst, sondern unschön für andere Beteiligte. Nur merkt man das nicht, und/oder es interessiert einen auch nicht. Aber für diese anderen Beteiligten ist es eben unschön.
Ich habe die Erfahrung gemacht, daß gerade ältere Internetnutzer sich bis heute nicht daran gewöhnt haben, Nicknames zu nutzen. Früher™, zu ihrer Zeit™, als man noch nicht online war, hat man sich doch auch immer mit Klarnamen angeredet oder höchstens noch mit Spitznamen, die andere einem gegeben haben statt man sich selbst. Und man will sich nicht umgewöhnen. Also versucht man, von seinen OpenSim-Bekanntschaften die Realnamen zu erfahren – um die dann in-world in aller Öffentlichkeit anstelle der Nicknames zu nutzen.
Bob rückt also damit raus, daß er im wahren Leben eigentlich Jürgen heißt. Und dann redet man Bob fortan mit „Jürgen“ an. Ist ja schöner, Leute mit ihren richtigen Namen anzureden, und nicht so unpersönlich, und so hat man das ja schon immer gemacht.
Nur lesen da zehn Leute mit, denen Bob nicht gesagt hat und auch nie sagen würde, daß er eigentlich Jürgen heißt. Erst werden die gar nicht wissen, wer gemeint ist, wenn ein Jürgen angeredet wird. Wenn sie es dann wissen, haben sie Real-Life-Informationen über Bob, die sie gar nicht haben wollten, die sie auch gar nichts angehen. Oder vielleicht wollte Bob nie, daß alle wissen, daß er im Real Life Jürgen heißt.
Außerdem zerstört es für sie die Immersion, wenn jemand mit einem völlig „falschen“ Namen angeredet wird. Für sie ist der Avatar, den sie da sehen, nämlich ein Charakter namens Bob. Und nicht das Profilbildchen einer realen Person namens Jürgen.
Wenn man einen Nutzer immer an seinem Avatar vorbei anredet, dann redet man ihn natürlich an allen seinen Avataren vorbei an. Also auch, wenn er einen Alt verwendet. Sogar dann, wenn er einen Alt verwendet, von dem nicht schon alle Welt weiß, daß er ein Alt ist. Aber für einen selbst ist das immer eine und dieselbe Person. Also behandelt man diese Person immer gleich – und redet sie auch immer gleich an. Und zwar mit dem Namen, den man gewohnt ist.
Man weiß also, daß Bob einen weiblichen Alt namens Alice hat. Man hat aber keinen Bock, Alice als separate Person zu behandeln. Dahinter steckt doch immer noch derselbe Mensch. Also redet man Alice hartnäckig weiterhin mit „Bob“ an, weil man es so gewohnt ist, den Menschen dahinter mit „Bob“ anzureden, und man sich nicht immer umgewöhnen will, wenn Bob gerade mal mit einem anderen Avatar online ist. Kommt doch auch so an, was man will.
Nur lesen da zehn Leute mit, die eben nicht wissen, daß Alice ein Female Alt von Bob ist. Die nicht mal wissen, daß Alice überhaupt von einem Mann gespielt wird. Und die das vielleicht auch gar nicht wissen wollen.
Und es zerstört für sie wieder die Immersion, wenn dieser weibliche Avatar mit „Bob“ angeredet wird. Für sie ist das eine Frau namens Alice. Und kein Typ mit falschen Titten in Weiberklamotten.
Vielleicht hat einer von denen gerade per IM mit Alice geflirtet in der Hoffnung, sie sei der Hauptavatar einer Frau – und in der Hoffnung auf romantische Momente oder gar Sex mit ihr. (Doch, es gibt Sex in OpenSim.) Alice (= Bob, aber das weiß derjenige nicht) hat mitgespielt, um demjenigen einen Gefallen zu tun. Und jetzt kommt da einer angetrampelt und blökt in aller Öffentlichkeit raus, daß Alice ein weiblicher Alt von einem Mann ist. Da vergeht demjenigen sofort die Lust aufs Flirten. Denn wenn er jetzt mit Alice ficken würde, würde er in Wahrheit – indirekt – mit einem Kerl ficken. Oder zumindest wüßte er, daß da ein Kerl auf der anderen Seite des Bildschirms dabei zuguckt, wie er mit diesem weiblichen Avatar rumbumst.
Noch schlimmer: Man weiß außerdem, daß Bob im wahren Leben Jürgen heißt. Also redet man nicht nur Bob mit „Jürgen“ an. Nein, man redet auch Alice knallhart in aller Öffentlichkeit mit „Jürgen“ an. Man will ja nicht mit Alice reden, die existiert für einen ja gar nicht. Man will ja auch nicht mit Bob reden, der existiert ja auch nicht. Das sind beides nur „bunte Bildchen“. Man will mit Jürgen reden. Und ob der jetzt mit Alice oder Bob oder wem auch immer online ist, ist einem scheißegal. Jürgen ist Jürgen, und man will mit Jürgen reden, also redet man mit Jürgen – und redet ihn also auch immer mit „Jürgen“ an, egal, vor wem.
Nur lesen da zehn Leute mit, die weder bisher wußten noch überhaupt wissen wollen, daß hinter dem weiblichen Avatar Alice ein Mann namens Jürgen steckt. Und die geht es auch gar nichts an.
Folgen für die Immersion und für virtuelle Techtelmechtel siehe oben.
Man ist an einem öffentlichen Ort unter Leuten, die man nicht alle schon kennt – und fängt an, ungefragt über eigene private Real-Life-Probleme zu labern, z. B. Ärger in der Familie oder körperliche Gebrechen.
Nur lesen da zehn Leute mit, die nichts davon wissen wollen, wie es dem Menschen hinter dem Avatar geht.
Man ist an einem öffentlichen Ort unter Leuten, die man nicht alle schon kennt bis auf einen guten Kumpel – und fängt an, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen, über die privaten Real-Life-Probleme des Kumpels zu labern, z. B. Ärger in dessen Familie oder dessen körperliche Gebrechen.
Nur lesen da zehn Leute mit, die es einen Scheißdreck angeht, wie es dem Menschen hinter dem Avatar des Kumpels geht.
Und dann ist das Gejammer groß, wenn sich der Kumpel auf einmal nicht mehr blicken läßt. Das heißt, tut er doch noch. Aber mit einem neuen Avatar. Unter neuer Identität. Am besten auch noch auf einem ganz anderen Grid. Und man selbst erfährt nichts davon. Man erfährt deswegen nichts davon, weil der Kumpel verhindern will, daß man aus eigener Ignoranz und Gleichgültigkeit heraus ihn gleich wieder öffentlich als ebendiesen Kumpel outet und bloßstellt.
Man kann in seinem Profil ein Real-Life-Foto hinterlegen. Muß man nicht und machen die meisten auch nicht. Aber es gibt Leute, die ihr Real-Life-Foto auf der Profilseite des Avatars parken, wo eigentlich ein Bild des Avatars hingehört. Ein deutlicheres Zeichen dafür, daß ihnen ihr eigener Avatar, alle anderen Avatare und die ganze 3D-Welt eigentlich scheißegal sind, gibt es kaum.
Umgekehrt: Man hat einen schön ausgefeilten Avatar mit einem entsprechend ausgefüllten Profil. Nur der First-Life-Teil ist entweder leer, oder man hat geschrieben, das geht niemanden etwas an. Und die Leute beklagen sich, daß sie an einen nicht rankommen, weil sie nicht mit dem eigenen realen Selbst interagieren können und man statt dessen einen Avatar „vorschiebt“, obwohl sie die eigentlichen Avatare normalerweise weitgehend ignorieren.
Und dann kommen noch die üblichen „Fehlverhalten“ dazu wie für die Situation völlig unpassende Kleidung, Umziehen in aller Öffentlichkeit, absichtliches Teleportieren, Ausloggen oder Fliegen in aller Öffentlichkeit usw. Für die einen ist es einfach, bequem und praktisch, für die anderen (zer)stört es die Immersion.
Letztlich ist auch der Aufbau von Sims und Orten auf Sims ein wichtiger Teil der Immersion. „Nutzerzentrische“ Sim-Betreiber neigen häufig dazu, entweder reine Zweckbauten für gesellige 3D-Chats oder zum Verteilen von Freebies zu bauen oder bestenfalls Orte, die wunderschön anzusehen, aber nur schwer immersiv nutzbar sind. Clubs bestehen nur aus Tanzfläche und Deko, und die Deko muß noch nicht mal eine Funktion suggerieren. Und daß ihre schicken Mesh-Sitzmöbel, die sie auch nur hier und da als Deko stehen haben, nicht zum Sitzen genutzt werden können, stört sie nicht nur – sie wissen es gar nicht, weil sie sich seit Jahren nie auf etwas gesetzt haben, was nicht zum Tanzen ist.
Die ausgefeilten Bauten „charakterzentrischer“ Sim-Betreiber machen es aber auch längst nicht allen recht. Viele wollen nicht außer Sichtweite des Clubs teleportiert werden, dann den Club womöglich erst suchen, eine Treppe hoch, durch eine Tür, durch noch eine Tür oder einen Vorhang und erst dann auf die Tanzfläche kommen, wo sie dann erst die Tanzmaschine suchen müssen. Sie wollen direkt an den Rand der Tanzfläche – oder besser noch mitten auf die Tanzfläche – teleportiert werden und sich dann einfach nur auf ein Tanzpad in unmittelbarer Sichtweite oder die Tanzfläche selbst „setzen“, und zwar bitteschön ohne aufpoppendes Menü. Aber so, wie „charakterzentrische“ Sim-Betreiber bauen, finden sie womöglich den Club gar nicht erst.
Zwischenmenschliches: nicht Öl und Wasser, sondern Säure und Wasser
Wenn der Avatar eines „nutzerzentrischen“ Nutzers und der eines „charakterzentrischen“ Nutzers in Kontakt kommen, kann es generell schwierig werden.
Der „nutzerzentrische“ User erzählt etwa über seinen Avatar ständig aus seinem Real Life. Den „charakterzentrischen Nutzer“ interessiert das aber gar nicht. Umgekehrt kann der „charakterzentrische Nutzer“ seinen Avatar nicht als die Rollenspielfigur nutzen, die er ist, weil er weiß, daß der „nutzerzentrische“ Nutzer das alles auf sein – vermutetes – Real Life projizieren wird, weil er nicht damit rechnet, daß das alles nur mehr oder weniger ausgedacht ist. Er kann seinen Avatar beispielsweise nicht von dessen Hintergrundstory erzählen lassen, weil sein „nutzerzentrischer“ Gegenüber das für die Hintergrundstory des Nutzers halten wird.
Den Extremfall stellt aber die sexuelle Begegnung dar zwischen dem Avatar eines „nutzerzentrischen“ Nutzers und einem Avatar eines „charakterzentrischen“ Nutzers, der nicht dasselbe Geschlecht hat wie der Nutzer, also z. B. einem seiner Female Alts.
Nehmen wir als Beispiel mal zum einen einen männlichen „nutzerzentrischen“ Nutzer, der natürlich einen männlichen Avatar hat. Dieser Avatar ist sein eigenes virtuelles Selbst.
Zum anderen haben wir einen männlichen „charakterzentrischen“ Nutzer, der ein Händchen für attraktive weibliche Avatare hat. Von denen hat er den einen oder anderen, und keiner davon repräsentiert sein reales Selbst.
Einer seiner weiblichen Avatare trifft nun auf den Avatar des „nutzerzentrischen“ Nutzers – und verdreht dem Nutzer gehörig den Kopf. Der fängt an, mit dem weiblichen Avatar zu flirten in Hoffnung auf ein Schäferstündchen.
Für den „charakterzentrischen“ Nutzer ist das alles nur ein Spiel, und er geht davon aus, daß das auch für seinen Gegenüber gilt.
Für den „nutzerzentrischen“ Nutzer ist das aber Realität. Virtuelle Realität, aber Realität. Für ihn ist auch der weibliche Avatar, mit dem er da flirtet, das direkte virtuelle Abbild eines realen Menschen. Und dieser Mensch, davon geht er aus, ist eine Frau.
Höchstwahrscheinlich ist er sich sehr wohl bewußt, daß es männliche Nutzer mit weiblichen Avataren gibt. Aber er ist inzwischen so liebestoll, daß er felsenfest davon ausgeht, daß hinter diesem Avatar aber ganz bestimmt eine Frau steckt. Das kann gar nicht anders sein. Nicht nur bemerkt er nicht, daß das eigentlich Wunschdenken ist, sondern er streitet es ab.
Wenn es zwischen den beiden Avataren zum Sex kommt, ist es aus der Sicht des „charakterzentrischen“ Nutzers im Grunde interaktiver Porno. Es ist nicht großartig anders als Sex in Videospielen, nur daß man hier die weitgehende Kontrolle über das Geschehen hat. Auf jeden Fall poppt da eine fiktive Figur mit einer anderen fiktiven Figur.
Aus der Sicht des „nutzerzentrischen“ Nutzers ist es dagegen Cybersex zwischen zwei voneinander entfernten realen Menschen mit Hilfe zweier Avatare. Das heißt, er fickt auf diesem Wege mit der Nutzerin hinter diesem sexy weiblichen Avatar. Und er will sie auf diesem Wege bald wieder ficken. Und dann immer wieder. Am besten eine Beziehung mit ihr eingehen. Wenn sie keine Liebesbeziehung in-world will, dann will er zumindest eine dauerhafte Fickbeziehung.
Um so katastrophaler endet es, wenn er zu spät erfahren sollte, daß sich hinter diesem sexy weiblichen Avatar eben keine Frau verbirgt – sondern ein Mann. Eine Welt würde für ihn zusammenbrechen. Er würde sich schmutzig fühlen, weil er „mit einem Mann Sex gehabt“ hat. Er würde glauben, auf einen Schwulen reingefallen zu sein, der mit weiblichen Avataren Sex mit Männern sucht. Der Enttäuschung und dem Schmerz würde er womöglich Luft machen, indem er im ganzen Hypergrid den weiblichen Avatar als „in Wahrheit ein Kerl“ outet.
Gerade auch aufgrund dieses Risikos wird der „charakterzentrierte“ Nutzer, wenn er merkt, daß sein Gegenüber es zu ernst meint und OpenSim und Realität nicht trennt, anschließend jeglichen Kontakt unterbinden. Entweder weiß er, wie riskant es wäre, das Spiel weiter fortzuführen – das ja für den „nutzerzentrierten“ Nutzer gar kein Spiel ist –, oder es wäre ihm zumindest zu anstrengend.
Verschwimmende Grenzen
So klar abgesteckt, wie hier geschildert, sind die Grenzen zwischen „nutzerzentriert“ und „charakterzentriert“ natürlich nicht, jedenfalls nicht grundsätzlich. Viele Nutzer sind im wesentlichen „nutzerzentrisch“, aber mit „charakterzentrischen“ Anteilen.
Insbesondere ignorieren sie Avatare und Umgebung nicht gänzlich. Für so manch einen ist das alles zunächst einmal „nur Pixel“ – aber wenn beispielsweise Avatare nackt sind, werden die dann doch als Mensch angesehen und die Nacktheit als unanständig. Schon regt man sich über Leute auf, die sich mitten im Freebie-Store bis auf die Unterwäsche oder gar nackig ausziehen, um neue Klamotten anzuprobieren, oder auf Nicht-Nacktsims ohne Klamotten herumstolzieren – oder man begibt sich auf eine Nackt-Sim zum Spannen. Umgekehrt ist es den wenigsten egal, ob bzw. wenn ihr eigener Avatar in der Öffentlichkeit nackt ist; da sind viele dann doch genant.
Gerade für Frauen ist ihr Avatar häufig mehr als „nur Pixel“. Während viele Männer quasi seit ihrem Rezztag stets dasselbe Aussehen haben, häufig sogar noch einen Systembody mit immer denselben alten Layerklamotten, verbringt die überwältigende Mehrheit der Frauen – plus einige derjenigen Männer, die einen weiblichen Hauptavatar haben, wenngleich längst nicht alle – viel Zeit damit, nach Avatarausstattung zu suchen und dann immer neue Outfits für ihre Meshbodys zu bauen. Die Analogie zu Barbie-Puppen kommt wieder in den Sinn, aber es zeigt auch den Stellenwert, den der eigene Avatar haben kann.
Übrigens gibt es selbstverständlich auch virtuelle Dressmen, und es gibt Frauen, deren Avatare immer gleich aussehen.
Außerdem tanzt fast jeder, wenn er auf einer Party ist, obwohl auch das ein Schritt in Richtung Immersion und eigentlich unnötiger Mehraufwand ist, wenn man einfach nur chatten will. Zugegeben, wenn man die meisten vor die Wahl stellt zwischen Tanzfläche bzw. Tanzpads ohne Menü und Tanzmaschine bzw. Tanzpads mit Menü, wählen sie die erstere Option, weil das einfacher ist. Aber sie lassen nicht einfach ihre Avatare doof in der Gegend herumstehen. Wer Nichttänzer ist, sucht statt dessen manchmal die Bar auf, sofern es eine gibt, oder alternativ eine Chillout-Ecke.
Und es gibt genug Leute, die von sich selbst sagen, daß sie nichts am Hut haben mit der „Rollenspielerei“, aber trotzdem ein schön möbliertes und dekoriertes virtuelles Eigenheim haben.
Nicht ganz neutraler Autor
An diesem Punkt sollte klar sein, auf welcher Seite ich stehe: Ich bin eher der „charakterzentrische“ Nutzer. Ich stehe da allerdings nicht am äußersten Ende der Skala. Mein Hauptavatar repräsentiert auf eine Art schon mich, aber ein bißchen aufpoliert, und er ist immer noch eine Rollenspielfigur auf eine Art. Ein harter Rollenspieler bin ich nicht, aber ich versuche schon, in die Welt einzutauchen und mich entsprechend gebührlich zu verhalten.