Rückblick auf 2022 und Ausblick
Ja, ich weiß. Eigentlich kommen Rückblicke aufs vergangene Jahr am Silvesterabend. Aber dann ist das Jahr ja noch nicht ganz vorbei, und in den schnellebigen virtuellen Welten kann dann immer noch etwas passieren.
Wie dem auch sei: 2022 ist vorbei, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, es Revue passieren zu lassen.
Das große Gridsterben
2022 könnte in die Geschichte von OpenSim eingehen als ein Jahr, in dem außergewöhnlich viele bekannte Grids verschwunden sind, darunter zwei der sechs ältesten Grids.
- Am 25. Januar war auf einmal sang- und klanglos Anettes Welt verschwunden. Bis heute gibt es von der Inhaberin kein Statement. Man nimmt an, daß sie für OpenSim keine Zeit mehr hatte – also weder für eine Ankündigung noch für das Herausgeben von IARs und OARs noch auch nur für ein Statement bezüglich der Gridschließung.
- Einen Tag später verschwand das ebenfalls deutsche Chimerus-Grid. Wie Anettes Welt war es leider technisch hoffnungslos veraltet, aber wie Anettes Welt hatte es interessante Freebies, die man sonst kaum oder nirgendwo fand.
- Im Februar wurden binnen einer Woche zwei wichtige französische Grids durch technische Probleme dahingerafft, Virtual Dream durch eine irreparabel defekte Datenbank und das FrancoGrid, das fünftälteste Grid, durch den Tod der Serverhardware. Im April verschwanden zwei weitere französische Grids. Die französische Community brauchte ernsthaft das eine oder andere neue Grid.
- Anfang April schloß das 3rd Life Grid. Die Ankündigung erreichte wohl nicht viele. Die Schließung wurde aber angekündigt, und einige Sims zogen vorher ins OSgrid um.
- Außerdem wurde im April das Soloton-Grid mit seinem – leider überalterten – Weltraumbahnhof geschlossen; eine Rückkehr wurde angekündigt, hat aber noch nicht stattgefunden. Phaandoria lebt als Privatgrid weiter.
- Im Mai schloß Roddie Macchi schon zum zweiten Mal sein Great Canadian Grid und wieder vor dem angekündigten Termin, aber nur einen Tag. Übrigens gibt es seit einiger Zeit wieder ein Great Canadian Grid unter Roddies Führung. Aber vom alten Grid ist, wie es aussieht, nur die Startsim übernommen worden.
- Später angekündigt wurde, aber früher stattgefunden hat die Schließung der deutschen Nextlife-World aus gesundheitlichen Gründen.
- Am 2. Juni wurde das deutsche Caledonia-Grid vom Techadmin abgeschaltet, nachdem der Gridvater Anfang des Jahres das Zeitliche gesegnet hatte. Damit verschwand leider sein Lebenswerk für immer.
- Für Ende Juni wurde die Schließung des zweitältesten aller Grids angekündigt, des einstmals mächtigen deutschen Metropolis Metaversums. Die tatsächliche Schließung war am Vormittag des 5. Juli. Allerdings hatten die Admins schon lange vorher keine Zeit mehr für das Grid, das quasi als Zombie weiterlief. Kaum jemanden hat die Schließungsankündigung überrascht; eher hat man sich darüber gewundert, daß Metropolis bis dahin immer noch lief.
Metropolis war mit seiner großen Abschiedsparty in einer seit über drei Jahren ungenutzten Location wohl der Höhepunkt, aber auch das Ende des Gridsterbens. Was danach passierte, kann man als Teil der natürlichen Fluktuation insbesondere jüngerer Grids ansehen.
Auch das Soul-Grid macht weiter, obwohl Rudi Bakerly, eine Hälfte des Gridinhaberpaares, letzten Monat mehr als plötzlich verstarb.
Zusammenhalt und Zwistigkeit in der deutschsprachigen Community
2022 ging die deutschsprachige Community durch ein Wechselbad der Beziehungen. Auf der einen Seite standen spektakuläre Kooperationen, auf der anderen Seite aber ein regelrechter Gridkrieg.
Im Februar gab es in Nextlife-World einen epischen geskripteten Rosenmontagsumzug mit Festwagen, an denen sich etliche Erbauer aus etlichen Grids beteiligten. Etwas in solchen Dimensionen ist immer spektakulär, und wenn es in einer so großen Kooperation entsteht, sogar noch mehr. Die deutschsprachige Community zog zu großen Teilen an einem Strang.
Mit der Herrlichkeit war es aber wenig später vorbei, als es Kabbeleien um wöchentliche Veranstaltungen gab. Auf einmal machten Veranstaltungen einander gezielt Konkurrenz. Daraus entwickelte sich ein regelrechter Gridkrieg zwischen zwei Allianzen von Grids.
Neutral zu bleiben in diesem Konflikt, war fast unmöglich. Wenn man auf einer Veranstaltung von einer Seite gesehen wurde, behielt sich die jeweils andere Seite Sanktionen dagegen vor, weil man sich dem „Feind“ anbiederte. Der Freund meines Feindes ist mein Feind.
Wenn ganze Grids sich neutral und pazifistisch verhalten wollten, wurde ihnen mitunter auch das nicht gegönnt. Dann fielen auch mal etliche Besucher von einer Seite bei einer Veranstaltung ein. Nicht nur sah es dann so aus, als wäre das betreffende Grid einer Seite beigetreten, sondern es wurde sogar die andere Seite schlechtgemacht und damit um eine Allianz geworben.
Letztlich fiel der Gridkrieg allmählich in sich zusammen, als sich mehr und mehr zeigte, daß er angestachelt wurde von einigen wenigen toxischen, aggressiven Individuen. Die verloren sogar in ihren Heimatgrids den Rückhalt, und ehemals „alliierte“ Grids ließen sich nicht länger von diesen Leuten anstacheln. Und schon bald konnten sich wieder Leute von beiden Seiten auf derselben Veranstaltung sehen lassen.
Ich hoffe, daß alle oder zumindest möglichst viele aus dieser Situation gelernt haben. Die Lektion in diesem Fall sollte sein, nicht nur individuelle Störenfriede als solche zu erkennen und zu isolieren, statt ihnen blindlings gegen einen vermeintlichen Feind nachzulaufen, sondern auch, wer die notorischsten Störenfriede sind. Denn das hat sich 2022 deutlich gezeigt. Solche Leute sollten nun eigentlich nicht länger in der Lage sein, große Allianzen um sich herum aufzubauen für Attacken auf andere Individuen oder Grids.
Und tatsächlich zeigte sich inzwischen, daß viele einfach nicht mehr willens sind, sich in solche Streitereien hineinziehen zu lassen – oder auch nur zu tolerieren.
Allen alten und neuen Feindschaften zum Trotze liefen über das Jahr hinweg im Hintergrund die Arbeiten für ein weiteres gridübergreifendes Großprojekt: die Modenschau im Oktober.
Die Besonderheit dieses Projekts war, daß es diese Modenschau zuletzt 2016 gegeben hatte – und überhaupt noch nie mit Mesh. Die letzte Veranstaltung dieser Art war also schon lange her, auch wenn sie im wesentlichen von den selben Organisatoren wieder aufgezogen wurde, und die technischen Gegebenheiten hatten sich geändert. Es sollte also eine Premiere sein, eine regelrechte Pioniertat.
Ich hatte ja 2021 schon eine Modenschau im Alternate Metaverse gesehen, die lief aber komplett geskriptet ab. An dieser Modenschau war meine kleine In-world-Schwester Juno sowohl mit Outfits – allerdings nicht mit eigener Kleidung – als auch als Model beteiligt. Und im Gegensatz zur Modenschau im AMV sollten die Models hier nicht vollautomatisiert, sondern handgesteuert auftreten, noch dazu auf einem sehr viel größeren „Laufsteg“.
Das Aufgebot an Outfits, zu einem erheblichen Teil Mesh, strafte jeden Lügen, der behauptete, in OpenSim würde keine Kleidung hergestellt, und alles müßte illegal aus Second Life geholt werden. Die Zahl der Outfits mußte sogar noch auf maximal vier pro Model reduziert werden, um die Modenschau auf maximal eine Stunde begrenzen zu können; sie hätte durchaus noch sehr viel länger sein können.
Weil das ganze Konzept in so mancher Hinsicht Neuland betrat, mußte viel probiert und umgeplant werden. Mitunter mußte ins kalte Wasser gesprungen werden; es gab ja auch noch keine Erfahrungen mit einem Publikum, das fast durchweg Mesh trug, und wie es sich auf die Performance niederschlagen würde. Es konnte ja auch niemand einschätzen, wieviele Zuschauer letztlich kommen würden – und das waren am Ende gut 40.
Die waren aber begeistert und die Veranstaltung am Ende ein voller Erfolg.
OpenSim und der Ukraine-Krieg
Auch der russische Angriffskrieg in der Ukraine machte sich in OpenSim bemerkbar. Es gab einiges an Solidaritätsaktionen von Artikeln in den ukrainischen Landesfarben über einzelne Konzerte bis hin zu einer ganzen Eventwoche, die in Dorenas World stattfand.
Allerdings gab es auch die andere Seite. Der Admin eines russischen Grid stellte sich offen auf die Seite Putins, dessen Propaganda er für bare Münze nahm. Er bezeichnete alle, die ihre Solidarität mit der Ukraine ausdrückten, als Nazi- und Terroristenunterstützer. Bis hin zu einzelnen Avataren, die Kleidung in den Farben der ukrainischen Flagge trugen.
Und er kündigte einen totalen, absoluten Vernichtungsfeldzug gegen sie alle an. Er führte sich auf wie ein Putin, der jede Person, jede Institution, jedes Land auf der Welt, das seine Sympathie mit der Ukraine bekundet hat, mit allen Mitteln vernichten wollte.
Letztlich passiert ist wenig. Nur die Newssite Hypergrid Business war aufgrund eines DDoS-Angriffs ein paar Tage nur schwer erreichbar.
Probleme gingen allerdings auch von denjenigen Russen aus, die sich nicht zu Putin bekannten, sowie in gewissen Fällen deren Online-Kollegen. Gegen den Krieg aussprechen konnten sie sich nicht, weil sonst das Risiko sehr groß gewesen wäre, daß die Russen unter ihnen von Speznas kassiert und ohne Gerichtsbeschluß auf unbestimmte Zeit weggeschlossen worden wären.
Die Probleme begannen nun an der Stelle, an der jeder, der sich nicht ganz klar gegen Putin und den Krieg positionierte, als Unterstützer Putins eingestuft wurde und mit allen Mitteln blockiert werden sollte. Dasselbe Schicksal blühte auch denjenigen, die solche Leute eben nicht mit allen Mitteln blockierten.
Wer mit den falschen Leuten friedlich und diplomatisch umging, wurde schneller blockiert, als ihm lieb war. Generell lebten Pazifisten auf einmal gefährlich, denn die gefühlt einzige erlaubte Meinung war, die NATO müsse Rußland umgehend mit einem totalen, ultimativen Vernichtungskrieg überziehen. Wer anderer Meinung war, war praktisch selbst schon Kriegsverbrecher – auch wenn man gleichzeitig von den tatsächlichen Kriegsunterstützern als Terrorhelfer blockiert worden war, weil man die ukrainische Flagge irgendwo gezeigt hatte.
Neuer Content – legal und illegal
Im Content-Bereich hat sich meines Erachtens 2022 einiges getan.
Einerseits hat der Content-Diebstahl aus Second Life wieder Fahrt aufgenommen. Das betraf ganz besonders tatsächlich wieder Meshbodys und dazu passende Kleidung. Ich meine, geschätzte 99% der Mesh-Avatare da draußen tragen schon geklaute Bodys und ausschließlich passende geklaute Kleidung, aber die weit verbreiteten Bodys sind unterm Strich alle von Mitte der 2010er. Es kam wohl langsam wieder der Wunsch auf, in puncto Meshbodys mit Second Life gleichzuziehen und die dort populärsten Bodys zu klauen. Und weil die vorhandene Kleidung dazu nicht passen dürfte, hat man davon auch gleich einen gewissen Grundstock mitgenommen – auch nicht legal.
Es sind aber zwei Trends zu beobachten. Zum einen macht man sich nicht mehr die Mühe, die Bodys umzubenennen. Das tat man bei den neuen Köpfen für Athena (= Maitreya Lara) und Adonis (= Slink Physique Male) ja auch nicht mehr, als man die Bodys auf BoM umbaute. Inzwischen tut man das auch bei den Bodys selbst nicht mehr.
Zum anderen ist es inzwischen mehr die Regel als eine Ausnahme, daß neue Avatarausstattung nicht mehr full-perm angeboten wird. „Sharing is Caring“ – das eh nur dazu dienen sollte, die Wege der Artikel aus Second Life in die OpenSim-Freebie-Läden zu verschleiern, weil man vor DMCA-Klagen Angst hatte – scheint keine Rolle mehr zu spielen. Statt dessen scheinen Freebie-Store-Betreiber und die Grids, in denen sie zu Hause sind, auf No-Transfer-Exklusivartikel zu setzen, die man nur bei ihnen bekommt.
Neu ist auch, daß es nicht mehr den einen zentralen Ort gibt, von dem aus alle Meshbodys sich ausbreiten. Jeder Body hat einen anderen Ort, gar ein anderes Grid, über das er ins Hypergrid kommt.
Nun könnte man einwerfen: Vielleicht sind die Bodys gar nicht geklaut. Vielleicht sind sie mit dem Einverständnis der Schöpfer nach OpenSim gebracht worden, aber unter der Bedingung, daß sie nur von den Importeuren in deren Laden angeboten werden.
Das werde ich so lange für Blödsinn halten, bis mir das Gegenteil bewiesen wird. Denn:
Erstens sind mindestens einige dieser Bodys in Second Life absolute Verkaufsschlager, die aktuell populärsten Meshbodys überhaupt. Deren Schöpfer dürften sich daran dumm und dusselig verdienen. Die werden sicherlich nicht ausgerechnet jetzt einer Verteilung in OpenSim als Freebies zustimmen.
Zweitens sind Meshbodys heutzutage längst aufwendig geskriptet. Die kann man also nicht einfach aus Second Life holen und am nächsten Tag in OpenSim in einer Kiste an die Wand klatschen. Es ist also davon auszugehen, daß die Bodys alle schon vor längerer Zeit besorgt wurden, als der Hype um sie jeweils wohl noch größer war.
Drittens, wenn die Bodys tatsächlich im Einverständnis mit den Schöpfern nach OpenSim gekommen wären, dann sollten ihre Anbieter in OpenSim das eigentlich erwähnen, um alle Behauptungen widerlegen zu können, die Bodys seien geklaut. Das hat aber keiner je getan. Es werden ja nicht mal die eigentlichen Schöpfer genannt. Wer sich mit Second Life nicht auskennt, soll wohl glauben, diese Bodys seien in und für OpenSim gemacht.
Eigentlich bräuchte es Statements seitens der Schöpfer in Second Life, ob sie der kostenlosen Verbreitung ihrer Bodys durch Dritte in OpenSim zugestimmt haben. Ich vermute aber mal, daß sie davon noch gar nichts wissen. Und wenn sie davon erfahren sollten, besteht das Risiko, daß das passiert, von dem alle beruhigt ausgehen, daß es nie passieren wird: eine Urheberrechtsklage gegen das jeweilige Grid. Denn dadurch, daß alle Bodys bis auf einen nur über ein Grid verteilt werden, braucht man auch nur ein Grid auf Unterlassung verklagen und (noch) nicht hunderte.
Und viertens, gerade weil es noch nie zu einer Urheberrechtsklage aus Second Life gegen irgendwen in OpenSim gekommen ist und alle davon ausgehen, daß es auch nie dazu kommen wird, macht sich eh fast niemand die Mühe, um Erlaubnis zu fragen. Es ist einfacher, die Sachen im Marketplace zu kaufen und dann einfach so zu exportieren. Es ist noch einfacher, sie aus den Inventaren argloser Avatare zu copybotten oder von Sandboxen, wenn da jemand seine Neuerwerbungen auspackt, und vor allem billiger.
Es gibt sie übrigens sehr wohl, die ehrbaren Leute, die in Second Life um Erlaubnis fragen, bevor sie etwas exportieren, die auch nur mit erteilter Erlaubnis exportieren und sich dann an die Bedingungen seitens der Schöpfer halten. Sie sind wenige, aber es gibt sie.
Und es gibt auch weiterhin diejenigen, die Sachen in und für OpenSim bauen. Aaack Aardvark produziert immer noch ab und an Neues und veröffentlicht auch gelegentlich Updates für ältere Artikel. Gerade im letzteren Bereich wird wohl noch mehr kommen. Um seine Mitstreiterin Bibiana Bombinante ist es im letzten halben Jahr leider ziemlich ruhig geworden. Aber ihr Sortiment ist so schon umfassend.
Ja, es gibt auch neue Avatarausstattung, und das ist nicht nur Schmuck von der stets umtriebigen Marianna Monentes. Gerade Klarabella Karamell hat seit Ende 2021 derartig viel Neues an Meshkleidung abgeliefert, daß sie neue Läden bauen mußte, weil die vorhandenen Ladenflächen an den Grenzen ihrer Kapazität angekommen sind. Und sie liefert immer noch. Vor allem aber gehört sie zu den sehr wenigen, die Kleidung für die legalen, in und für OpenSim gemachten Meshbodys der Ruth2- und Roth2-Reihen macht. Und ja, sie macht auch Herrenkleidung. Nicht wenige ihrer Kreationen waren übrigens auf der Modenschau zu sehen.
Sogar das Thema Texturieren bekannten Altmaterials ist weiterhin aktuell, zumal es da viel gibt, was leicht kombiniert werden kann. Neu dabei ist Robin Ridley, die Kleidung auf Clutterfly-Basis in Catena di Isole anbietet. Auch Remmy Ravenhurst ist zurück, nachdem Tropicana Freebies mit ihrem sehr interessanten Laden geschlossen wurde. Sie hat inzwischen zwei Läden namens „Make Do And Mend“ auf Tropicana Lakes und Werbung dafür in der Ruth-and-Roth-Gruppe auf OpenSimWorld gemacht. In dutzendweisen Outfits kombiniert sie neu- oder umtexturierte Kleidung von Linda Kellie/Clutterfly, Damien Fate und anderen, teilweise auch mit Layerkleidung.
Last but not least ein bißchen Eigenwerbung: Wer sich in der oben verlinkten Gruppe umgesehen hat, wird feststellen, daß ich am Heiligabend 2022 endlich die schon länger in Arbeit befindlichen Nagellackboxen für Ruth2 v4 veröffentlicht habe.
Ausblick
Was wird uns nun 2023 bringen? Nun, zunächst will ich hoffen, daß das Gridsterben nicht wieder losgeht.
Daß der Gridkrieg von 2022 wieder aufflammt, das halte ich für unwahrscheinlich. Es ist ja inzwischen bekannt, wie der zustande kam. Wenn, dann werden eher die Hauptakteure des Krieges isoliert, wenn sie sich weiterhin nicht zusammenreißen können. Die Zeichen der Zeit dürften eher auf Verständigung und Kooperation stehen, wozu hoffentlich auch die Fortsetzung der monatlichen OpenTalk-Runden beitragen wird.
In puncto Content sehe ich die nächsten Jahre eher zwiegespalten. Daß die Eigenkreativität in OpenSim wieder nachläßt, ist wohl eher unwahrscheinlich. Bei einigen Schöpfern bin ich mir sicher, daß sie sogar wieder zurückkehren werden.
Andererseits wird aber 2023 noch viel mehr Avatarausstattung aus Second Life geklaut werden. Ich rechne mit einer großangelegten Kampagne, um alle etablierten Meshbodys zu ersetzen.
Und die käme nicht von ungefähr: Am gestrigen Neujahrstag ist die Marke Slink geschlossen worden. Mit Slink Physique Male stirbt auch Adonis, der populärste männliche Meshbody im Hypergrid, mit Slink Physique Hourglass sterben Decadence-HG und BBHG, und für diese Bodys dürfte nun auch keine neue Meshkleidung mehr produziert werden. Sie sind nun definitiv Sackgassen.
Aber auch Athena ist schlichtweg alt inzwischen. Auch die letztes Jahr geklauten EvoX-Köpfe, -Skins und -Tattoos können nicht darüber hinwegtäuschen. Sie ist und bleibt eine Maitreya Lara von 2014. Entweder werden nun so übertriebene Bodys wie die jüngst importierten zum Standard, so daß auch eine ganz normale Athena – oder auch eine Ruth2 v4 – nicht mehr als erwachsen durchgeht. Athena Petite gilt ja jetzt schon quasi als Preteen-Body, obwohl sie eigentlich realistisch ist.
Oder irgendein Laden auf irgendeinem Grid wird demnächst einen „normaleren“ neueren weiblichen Meshbody nebst Kleidung herausbringen. Dann wird sich zeigen, ob allgemein an Athena festgehalten oder auf den neuen Body umgestiegen wird. Das heißt, es soll wohl schon eine neue Version von Maitreya Lara im Hypergrid geben, aber unter neuem Namen.
Die durch No-Transfer künstlich generierte Exklusivität wird anfangs bei der Ausbreitung ganz neuer Bodys hinderlich sein, weil sie nicht in allen möglichen Freebie-Stores zu finden sind, sondern in jeweils nur einem Laden, den man erst finden muß. Aber ich rechne damit, daß Freebie-Store-Betreiber per God Mode die No-Transfer-Einschränkung einfach aushebeln und die Bodys dann in ihren eigenen Läden anbieten werden. Und Kleidung läßt sich einfach copybotten und ist dann eh full-perm.
Bis zum Frühjahr 2023 dürften die ersten Drittläden den einstmals exklusiven Content anbieten. Womögich sind alle neuen Bodys bis zum Sommer sogar noch weiter verbreitet als Ruth2 v4 und Roth2 v2, die sich ja auch langsam von einem neuen Freebie-Store zum nächsten weiterverbreiten. Jeder will sie dann haben.
2024 wird man dann alte Freebie-Sims daran erkennen, daß sie immer noch Bodys und Kleidung aus den 2010ern anbieten, also auch Athena nebst Kleidung – außer es breitet sich auch eine neue Version von Maitreya Lara im Hypergrid aus. So manch eine neue Freebie-Sim wird diese Sachen ebenso ablehnen, wie etliche Sims sich heute schon weigern, die alten Klamotto-Sachen anzubieten – oder generell alles, was nicht geklaut ist.
Alte und nicht mehr gepflegte Freebie-Sims erkennt man dann daran, daß sie die neuen Body- und Kleidungsboxen nicht haben. Athena 6 und Adonis 4 hat sich ja auch fast jeder in nullkommanix an die Wände gehängt, der sich überhaupt noch um seine Freebie-Sim gekümmert hat.
Legale Kreationen aus und für OpenSim wird es, wie gesagt, weiterhin geben. Die Frage wird eher sein, einen wie schweren Stand sie gegen eine neue Welle von Diebesgut und die damit zwingend verbundene massive Werbung haben werden.
Natürlich werden sie weiterhin „Boutique-Artikel“ bleiben, die – full-perm oder nicht – fast ausnahmslos nur in den Läden ihrer Schöpfer zu finden sein werden und nicht in den großen gemischten Freebie-Stores. Ruth2 v4 und Roth2 v2 werden die großen Ausnahmen bleiben. Das, oder sie werden aus so manch einem Laden wieder rausgeworfen, erstens, weil sie „alt“ sind, zweitens, weil der Ladenbetreiber nirgendwo in seinem Laden ausdrücklich für sie geriggte Kleidung findet, und drittens, weil der Ladenbetreiber Platz für neue geklaute Sachen braucht.
Aber um ehrlich zu sein, wäre ich nicht überrascht, wenn 2023 aus gleich mehreren Richtungen regelrechte Kampagnen gegen legalen Content, insbesondere gegen legale Avatarausstattung starten würden, um den „Exklusivanbietern“ neuer Meshbodys genau das Oligopol zu verschaffen, das in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre die Copybotting-Mafia gern als Monopol gehabt hätte.
Während „Never Buy In OpenSim“ weiter genutzt werden würde in einem Versuch, kommerzielle Anbieter aus dem Hypergrid zu vertreiben, würde „Sharing Is Caring“ zu Grabe getragen. Zum einen widerspricht es den Exklusivitätsgelüsten der Meshbody-Hehler. Zum anderen könnte man es prima nutzen, um Full-Perm-Content als „alt“ und „minderwertig“ abzustempeln. Das würde auch auf vieles Legales abzielen, das, obwohl es nur an einem oder wenigen Orten verfügbar ist, durchaus full-perm ist.
Ich sehe auch regelrechte Propaganda gegen legale Avatarausstattung aufkommen, die sie durchweg als „häßlich“ bezeichnet. Diese würde mit einer derartigen Intensität betrieben, daß hunderte, tausende Neuankömmlinge darauf ebenso hereinfallen werden wie auf „Sharing Is Caring“ und „Never Buy In OpenSim“, vor allem solche, die vorher keine Erfahrungen in Second Life sammeln konnten und nicht wissen, daß der weit überwiegende Teil allen Contents im Hypergrid illegal von ebenda bezogen wurde.
Möglicherweise wird es gar automatisierte Sperren gegen „alte“, „häßliche“ Avatare geben, entweder simweit oder gridweit, jedenfalls installiert von den neuen Hehlern oder deren engerem Freundeskreis. Entweder werden alle Avatare mit bestimmten Meshbodys – vor allem sämtlichen legalen Meshbodys – oder anderen Anhängseln ausgesperrt. Oder man läßt von vornherein nur Avatare durch, die von Kopf bis Fuß ausgestattet sind mit Sachen, die frühestens 2022 aus Second Life gekommen sind, um damit auch Athenas zum Umstieg auf neue Exklusivbodys zu zwingen.
Aktuell scheint der Trend langsam wegzugehen von reiner Werbung auf OpenSimWorld und hin zu Teleportbahnhöfen in-world. Aber schon da sehe ich ab und an eine totale Verweigerungshaltung gegenüber Sims, die legalen Content anbieten – derweil nur zu gern Teleporter eingerichtet werden für Sims, die ausschließlich Illegales anbieten.
Um etwas optimistischere Töne anzustimmen: Vielleicht haben wir ja Glück, und die Kreativen OpenSims und ihre Anhänger sagen sich angesichts einer neuen Schwemme illegalen Contents: „Jetzt erst recht“, vernetzen sich und sorgen so für mehr Bekanntheit ihrer selbst und ihrer Produkte. Vielleicht wird es die schon länger geplanten Sammel-Freebie-Sims für ausschließlich legale Sachen geben. Vielleicht wird es auch Teleportbahnhöfe geben, von denen aus man auf schon länger existierende Sims von OpenSim-eigenen Schöpfern gelangt.
Ich weiß seit dem letztjährigen Kitely-Geburtstag, daß Ruth2 und Roth2 in Weiterentwicklung sind. Leider findet das Ganze hinter halbwegs verschlossenen Türen statt; die Meshes werden von ganz neuen Leuten bearbeitet, organisiert wird alles auf Discord, und auch auf GitHub passiert praktisch überhaupt nichts. Vielleicht haben wir ja Glück, und 2023 gibt es eine neue Ruth2; zumindest einen Bugfix würde ich mir wünschen. Mit einem neuen Roth2 rechne ich nicht, der dürfte vor einer grundlegenden Umgestaltung des Mesh stehen, denn mit ihm war niemand je so ganz zufrieden.
In der deutschsprachigen Community ist die Dominanz des Diebesguts generell weniger extrem und wird auch so bleiben. Hier gibt es einiges an Kreativität, wie ja die Modenschau gezeigt hat. Die wird unterstützt und respektiert; auch diejenigen, die ihre eigenen Avatare mit absolut nichts Legalem ausgestattet haben, stehen der Eigenkreativität der OpenSim-Nutzer aufgeschlossen gegenüber oder würden sie sogar weiter fördern. Ich meine, bei der Modenschau liefen einige Athenas mit, die aber trotzdem Produkte aus OpenSim trugen.
Natürlich liegt das daran, daß viele überhaupt nichts von dem mitbekommen, was im englischsprachigen Bereich passiert. Aber generell ist die Attitüde hier anders, auch weil viele eben selbst Leute kennen, die kreativ tätig sind. Wer aktiv versucht, gegen diese Kreativität oder die Verbreitung ihrer Erzeugnisse vorzugehen, wird auch weiterhin keine Mehrheit um sich scharen können. Und jegliche Versuche, Diebesgut als Eigenkreation anzupreisen, haben gute Chancen, entlarvt zu werden – zumal genau das letztes Jahr auch schon passiert ist.
Eine weitere Frage, die sich für 2023 stellen wird, ist: Wie geht es mit OpenSimWorld weiter?
Die Website ist ja im Grunde das Nervenzentrum des Hypergrid und der primäre, zentrale Treffpunkt der ansonsten komplett dezentralen OpenSim-Community. Ihr mangelt es aber vor alem an dreierlei: erstens besseren Regeln für die Community und die eingetragenen Sims, zweitens Moderatoren, um diese Regeln durchzusetzen, und drittens folglich Moderation in jeglicher Form. Es gibt nicht einmal eine Netiquette.
Lange haben die User das so hingenommen, weil es keine Alternativen gab. Letzten Monat ist aber das Thema der Benutzerzahlen hochgekocht, die künstlich hochgetrieben werden mit entweder permanent anwesenden Avataren oder frisierten Beacons, die NPCs als Avatare ansehen. Noch dazu bleiben auch persönliche Angriffe, sogar mit nur zu offensichtlichen Sockenpuppen, ebenso völlig ungeahndet wie andere faule Tricks, die eigene Sim mehr ins Rampenlicht zu rücken.
Das führt dazu, daß mehr und mehr User von OpenSimWorld die Schnauze voll haben. Ganze Grids haben sich inzwischen von da zurückgezogen, in Bälde folgt wohl auch das neue I Love You Grid, das aus einer Anzahl an Sims auf ZetaWorlds hervorgegangen ist. Angeblich soll es schon Alternativen zu OpenSimWorld geben, aber zum einen sind mir immer noch keine bekannt, und zum anderen werden die nicht jetzt schon denselben Funktionsumfang haben.
Was nicht ist, kann sehr wohl noch werden. Die langsam, aber stetig steigende Anzahl an Teleportbahnhöfen könnte ein Zeichen dafür sein, daß man allgemein versucht, zumindest den Simkatalog-Teil von OpenSimWorld in Eigenregie zu ersetzen. Das ist zwar weit von den Möglichkeiten von OpenSimWorld entfernt, aber bevor es OpenSimWorld gab, waren Teleportbahnhöfe in Verbindung mit Landmarken probate Mittel der Bewegung durchs Hypergrid. Aber auch menügesteuerte Teleporter könnten durchaus fröhliche Urständ feiern.
All diese Lösungen haben wohlgemerkt denselben Nachteil: Es obliegt ihren Eigentümern, dafür zu sorgen, daß sie aktuell bleiben. Das heißt, die Eigentümer müssen von sich aus immer wieder testen, ob die eingetragenen Teleportziele noch da sind und noch so sind wie beschrieben. Wenn so etwas die Dimensionen von Spike Sols Weltraumbahnhof annimmt, ist praktisch unvermeidlich, daß es auch so schnell veraltet wie der Weltraumbahnhof, weil man einfach mit Überprüfen und Pflege nicht hinterherkommt. OpenSimWorld hatte immer den Vorteil, daß sich die Simbetreiber komplett selbst um ihre Einträge kümmern können.
Zu guter Letzt bietet sich als Treffpunkt der globalen Community das Fediverse an. Ein weiterer Trend, der 2022 begann und sich dieses Jahr sicherlich fortsetzen wird, ist dessen Wachstum, vor allem auf Mastodon. Nicht nur viele Second-Life-Nutzer tummeln sich da schon, sondern auch eine allmählich steigende Anzahl an OpenSim-Nutzern. Es gibt sogar eine eigene Mastodon-Instanz für OpenSim-Nutzer.
Alles in allem könnte 2023 auch für OpenSim ein Jahr des Aufbruchs und der Umwälzungen im positiven Sinne werden. Man darf gespannt bleiben.