Kommt der Ukraine-Krieg nach OpenSim?
Kurze Antwort: Nein. Er ist schon da.
Okay, zugegeben, das war Clickbait. Aber auf eine Art ist es die Wahrheit. Denn auf der einen Seite gibt es viele Solidaritätsbekundungen für die Ukraine in OpenSim, sowohl in-world als auch auf dazugehörigen Websites. Und es wird auch offengelegt, wer Putin-Anhänger ist. Einige von ebendiesen versuchen aber auf der anderen Seite, jegliche Solidarität für die Ukraine nicht nur als Unterstützung von Nazis und Terroristen zu brandmarken, sondern in einem totalen Vernichtungskrieg restlos auszulöschen.
Warten auf Statements seitens vermeintlicher und tatsächlicher Russen
Aber von Anfang an: Als der Krieg in der Ukraine begann, gab es nur noch zwei wesentliche Grids aus russischsprachigen Ländern mit teilweise oder komplett russischem Team dahinter.
Zum einen war das das berüchtigte Sacrarium, das seine ganz eigene Geschichte hat, die ich hier nicht breittreten will. Sacrarium hat seinen Serverstandort in Kasachstan, meines Wissens in der Wohnung des primären Techadmin, und dazu zwei weitere russische Administratoren. Es ist eigentlich kein russisches Grid, wird aber als solches angesehen. Früher hatte Sacrarium auch eine russische Top Level Domain, inzwischen hat es die der Sowjetunion.
Zum anderen war das Caprica, das weit weniger bekannt ist und in erster Linie für seine Events. Caprica ist tatsächlich durch und durch russisch. Es hat sich selbst vor jüngerer Zeit eine eigene Domain mit neutraler TLD genehmigt, vermutlich, um nicht länger in Sippenhaft genommen zu werden für Sacrariums Untaten, die dazu führten, daß man Russen in OpenSim generell nicht mehr traute.
Reaktion von Sacrarium
Nach Kriegsbeginn wartete man tagelang auf eine Stellungnahme Sacrariums, um entsprechend reagieren zu können. Das heißt, das Fehlen einer Stellungnahme wurde zeitweise als Stellungnahme an sich angesehen. Am 1. März kam sie dann auf Sacrariums eigenem Social Network Soziarium. Darin hieß es: Sacrarium wünscht sich den Weltfrieden, auch schon deshalb, weil sie aktive Nutzer aus aller Herren Länder haben. Was den Zivilisten in der Ukraine zustößt, kann man nicht gutheißen. Andererseits aber gibt man der NATO und den USA die Schuld am Krieg und kommt mit anderen Kriegen – die noch nicht einmal alle von den USA angefangen wurden – als Whataboutisms. Man steht zwar nicht auf Putins Seite, aber auch nicht gegen ihn. Obendrein behauptet man, nur der Westen würde auf Propaganda reinfallen, und bezichtigt die USA und die NATO des Nazitums.
Daß Sacrarium sich nicht offiziell gegen Putin stellte, wurde als Extragrund angesehen, das Grid zu blockieren. Gleichzeitig wurde Dorena Verne, Gründerin und Administratorin von Dorena’s World, als regelrechte Kriegskollaboratorin attackiert, weil sie – übrigens eine der striktesten und radikalsten Pazifistinnen, die ich je kennengelernt habe – mit dem Chefadmin von Sacrarium (noch einmal, der Mann ist Kasache und kein Russe) nach einer kurzzeitigen gegenseitigen Sperre offiziell Frieden geschlossen hat, woraufhin beide Seiten die Sperren aufgehoben haben. Auch andere bekannte Mitglieder von Dorena’s World wurden verbal angegriffen.
Reaktion von Caprica
In der Zwischenzeit war es um Caprica still geworden. Das Grid zog nie so gewaltige Aufmerksamkeit auf sich, weshalb niemand es bemerkte – auch nicht, daß Caprica ein eigenes Statement verfaßte. Die Worte sind deutlich: Caprica steht voll und ganz hinter Putin und dessen „militärischer Spezialoperation“ in der Ukraine. Für das Caprica-Team ist es unumstrittene Tatsache, daß in der Ukraine Nazis und sogar Terroristen das Sagen haben.
Mehr noch als das: Sie bezichtigen jeden, der für die Ukraine in irgendeiner Weise Partei ergreift – und sei es durch das Tragen von Kleidung in den Farben der ukrainischen Flagge – der Nazi- und Terrorunterstützung. Vier Tage nach Kriegsbeginn, noch bevor Sacrarium sein Statement abgab, gab Caprica in einer Ergänzung bekannt, daß sie acht Grids für immer gesperrt haben, darunter das OSgrid, das größte und älteste aller Grids, und wieder Dorena’s World, noch bevor die dortigen Friedens- und Solidaritätsveranstaltungen für die Ukraine auch nur geplant waren. Dies dürfte auch einfach daran gelegen haben, daß unter anderen aus diesen beiden Grids Kleidung in den ukrainischen Nationalfarben kam.
Die zu sperrenden Grids waren übrigens genau die, über deren positive Aktionen zum Krieg Hypergrid Business berichtete. Im selben Post wurde aber auch über die absolut regimetreue Parteinahme Capricas berichtet. Deren Reaktion war, Hypergrid Business die namentliche Nennung von Caprica und dessen Team zu verbieten und sogar zu fordern, alle bisherigen Posts, in denen Caprica genannt wurde, entweder zu löschen – wie den eben genannten – oder zu redigieren. Außerdem forderte der Admin, jeden Text, in dem es um Caprica gehen soll, vor Veröffentlichung einsehen und der Veröffentlichung zustimmen zu dürfen.
An der Schwelle zum Cyberwar?
Das reichte aber anscheinend noch nicht. Am Montag berichtete Maria Korolov, die hauptsächliche Autorin von Hypergrid Business, daß noch jemand aus diesen Kreisen sie gewarnt hatte: Wenn das Blog nicht umgehend seine „Nazi-Unterstützung“ (= auch nur das Zeigen der Farben der ukrainischen Flagge) einstellt, wird es auf eine „Liste zur Zerstörung“ gesetzt. Dasselbe gilt für OpenSims zentrales Infoportal OpenSimWorld.
Nur diese beiden Ziele wurden namentlich genannt, aber es ist nicht auszuschließen, daß diese Liste, so sie existiert, noch länger ist. Denn Ziele gäbe es genügend. Darunter fielen beispielsweise alle Grids, in denen es irgendwelche solidarischen Aktionen und/oder Objekte für die Ukraine gibt, gegeben hat oder angekündigterweise geben wird.
Daß etwas passieren wird, ist so wahrscheinlich, daß es schon sicher ist. Denn es ist schon etwas passiert. Nur kurze Zeit, nachdem der verlinkte Artikel auf Hypergrid Business erschienen war, meldete ein regulärer Hypergrid-Business-Leser, daß die Website down war. Es kostete Maria nur einen Anruf beim Webhoster und den wiederum nur ein paar Sekunden, um die Website wieder zum Laufen zu bringen – aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hatte es eine erste Attacke im Sinne der „Terrorismusbekämpfung“ gegeben.
Aktuell halte ich es allerdings für unwahrscheinlich, daß die Caprica-Betreiber tatsächlich einen direkten Draht zum nationalen russischen Cyberwarfare-Kommando haben und bei denen diese „Liste zur Zerstörung“ vorliegt. Die haben nämlich wichtigere Tätigkeiten, als Blogs, die keine Sau kennt, mit an sich unpolitischem Nischenthema abzuschießen, nur weil da jemand Partei für die Ukraine ergreift. Vor allem würden es eh nur die paar hundert Leute merken, die Hypergrid Business regulär verfolgen; man kann damit also noch nicht einmal ein militärisches Exempel statuieren, wenn es sowieso annähernd niemand mitbekommt.
Außerdem – wenn das tatsächlich die Cyberwarfare-Abteilung des russischen Militärs tun würde, dann wäre das ein kriegerischer Akt. Serverstandort von Hypergrid Business sind die USA, was die ganze Sache zu einem kriegerischen Akt der Russischen Föderation gegen die Vereinigten Staaten und gegen die NATO machen würde. Und das wissen auch die Cyberkrieger: In den USA, im Pentagon und im Generalstab, da sitzen schon seit Jahrzehnten Leute, die ungeduldig die Messer wetzen und nur darauf warten, daß „der Russe“ ihnen endlich einen Kriegsgrund liefert.
Und selbst wenn die Caprica-Leute tatsächlich fanatisiert genug wären, die OpenSim-Szene und die dortigen Ukraine-Sympathisanten ans russische Militär und an russische Geheimdienste zu verraten: Ich glaube kaum, daß die wiederum positive Rückmeldung an Zivilisten geben – und denen dann auch noch erlauben, das öffentlich im Internet und noch dazu US-Amerikanern gegenüber kundzutun.
Blieben noch drei weitere Möglichkeiten. Erstens: Caprica hat kommerzielle Profis angeheuert, die die „Zerstörung“ durchführen sollen. Nicht sonderlich wahrscheinlich, wenn sie sich gleichzeitig über das sanktionsbedingte Wegbrechen der PayPal-Zahlungen beklagen. Zweitens: Caprica hat irgendwelche Skriptkiddies angeheuert. Drittens: Caprica hat selbst begonnen, sich ein „Cyberwarfare“-Arsenal zurechtzulegen. Bei allen drei Punkten frage ich mich, ob das – unabhängig von Zielen und Motivation – in Rußland legal ist.
Im übrigen führt auch Putin keinen totalen globalen Vernichtungskrieg gegen alle Ukraine-Sympathisanten. Er läßt nicht weltweit mit Marschflugkörpern auf Leute schießen, nur weil die ein blaues Hemd zu einer gelben Hose tragen.
Reaktion von Maria Korolov (Hypergrid Business)
Allerdings sind die Caprica-Leute bei Maria Korolov genau an der richtigen Adresse gelandet. Die war früher nämlich tatsächlich mal Reporterin. Auslandskorrespondentin. Sie hat direkt aus so ziemlich jedem Kriegsgebiet berichtet, in dem „der Russe“ zugange war. Sie wurde dafür zweimal in den Knast gesteckt und bekam einmal sogar Besuch von einem Todesschwadron, das sie persönlich killen sollte. Sie saß in Schützengräben und mitten im Bombenhagel aus russischen Kampfbombern. Und so weiter. Das erzählt sie alles in dem Blogpost.
Kurzum: Russen können sie schlicht und ergreifend nicht mehr schocken. Da müßten sie schon sehr viel schwerere Geschütze auffahren als das vorübergehende Abschießen von Hypergrid Business.
Ihr Vorschlag, was ihre russischen Haters statt dessen tun könnten, ist interessant: Maria arbeitet ja an einer Buchreihe über eine virtuelle Welt, die dem Hypergrid nicht ganz unähnlich ist. Diese Bücher könnten die Russen massenhaft aufkaufen und verbrennen. Und zwar ganz viele davon.
Ironie des Schicksals: Die virtuelle Welt aus Marias Büchern heißt so, wie die von Rußland annektierte Halbinsel auf unter anderem Russisch, Ukrainisch und Deutsch heißt: Krim. Ich frage mich, ob sie das weiß (auf Englisch heißt die Krim „Crimea“).